Großer Markt, schwieriges Terrain: So bringen Health-Startups das Gesundheitssystem voran

Stell dir vor, eine App erinnert deine Großeltern täglich daran, immer pünktlich ihre Medikamente einzunehmen. Stell dir vor, eine Software wählt geeignete Musikstücke aus, die einem Menschen dabei helfen, seinen Tinnitus zu bekämpfen. Stell dir vor, ein unscheinbares Gerät, das Plasma erzeugt, schließt chronische Wunden, unter denen ein Patient sonst Monate leiden würde, schon in wenigen Tagen. Klingt das nicht nach großartigen Visionen für die Zukunft, nach tollen Ideen, die vielleicht schon in ein paar Jahren Realität werden könnten? Die Wahrheit ist: All diese Erfindungen gibt es schon längst. 

Nicht erst seit der Corona-Krise bewegt sich etwas in unserem Gesundheitssystem. Immer mehr Health-Startups wollen mit innovativen Ideen Krankheiten schneller heilen, Patienten bei ihrer Therapie unterstützen und Ärzten die Arbeit erleichtern. Viele konzentrieren sich auf das Gebiet der Digitalisierung – und einigen jungen Unternehmen gelingt es sogar, die Medizin entscheidend voranzubringen. Ein besonders erfolgreiches Beispiel ist das Berliner Startup Newsenselab. Der Gründer holte sich einen Arzt und einen Spezialisten für Software mit ins Boot. Gemeinsam entwickelten sie die App M-sense, eine digitale Migränetherapie, die nicht nur Auslöser von Migräne und Kopfschmerzen analysiert, sondern dem Patienten auch mobile Therapiemethode zur Verfügung stellt. M-sense erfasst zum Beispiel das Wetter als Einflussfaktor und bietet dem Patienten bestimmte Entspannungsübungen an. Die in Deutschland als Medizinprodukt zertifizierte App ist beliebt und zählt bereits rund 250.000 Installationen. 

Medizinprodukte: Milliardenmarkt und Jobmotor

Auch die Seedmatch-Crowd hat in den vergangenen Jahren schon mehrere Medizinprodukte unterstützt, darunter zum Beispiel den OvulaRing, eine Erfindung aus Leipzig. Ein Biosensor misst im Körperinneren der Frau laufend die Temperatur und kann anhand der Werte den weiblichen Zyklus vollständig abbilden. Das Produkt hilft Frauen vor allem dabei, den Eisprung und die fruchtbare Phase zu bestimmen. Bei einem Kinderwunsch kann das hilfreich sein, aber auch zur Unterstützung der natürlichen Verhütung. 

 Die App für Migränepatienten und der OvulaRing sind nur zwei Beispiele von vielen. Dass sich zahlreiche Gründer auf die Gesundheitsbranche fokussieren, verwundert nicht, schaut man sich den aktuellen Branchenbericht des Bundesverbandes für Medizintechnologie an. Demnach legte der Gesamtumsatz der produzierenden Medizintechnikunternehmen (mit über 20 Beschäftigten) in Deutschland im Jahr 2018 um 3,3 Prozent auf 30,3 Milliarden Euro zu. Der Inlandsumsatz betrug 2018 immerhin 10,5 Milliarden, der Auslandsumsatz sogar 19,8 Milliarden Euro. Doch die Hersteller von Medizinprodukten können nicht nur mit großen Umsatzzahlen glänzen, sie sind auch ein bedeutender Jobmotor. Allein in Deutschland arbeiten in den rund 1.350 größeren Betrieben über 143.000 Mitarbeiter. Hinzu kommen rund 11.000 Kleinstunternehmen mit noch einmal 60.000 Beschäftigten. Ein weiterer Pluspunkt: Die Unternehmen dieser Branche sind besonders innovativ. Bei Patenten auf Medizinprodukte liegt Deutschland weltweit auf Platz 2 hinter den USA. Und es gibt noch einen Fakt, der belegt, wie schnell die Entwicklung voranschreitet: Rund ein Drittel ihres Umsatzes erzielen die deutschen Medizintechnikhersteller mit Produkten, die weniger als drei Jahre alt sind. 

Ärzte setzen große Hoffnungen in Health-Startups

Besonders viele neue Ideen fallen unter den Begriff „Digital Health”. Gemeint ist die Verbindung von Gesundheitsfürsorge und digitalen Technologien, ein Bereich mit großem Potenzial. Denn Fakt ist: Das Gesundheitssystem muss sich gerade vielen Herausforderungen stellen. Eine alternde Gesellschaft, Ärztemangel auf dem Land, Pflegenotstand und ein hoher Kostendruck in den Krankenhäusern erschweren die medizinische Versorgung. Spätestens seit der Corna-Krise wird auch deutlich, dass Krankheiten nicht an Ländergrenzen haltmachen. Durch die Globalisierung sind neue Gesundheitsrisiken entstanden. Damit aber auch in Zukunft Patienten medizinisch gut betreut werden können, braucht es die digitale Unterstützung. 

Startups, die in diesem Bereich aktiv sind, werden deshalb von Medizinern auch sehr geschätzt. Zu diesem Ergebnis kommt der Digitalverband Bitkom. 477 Ärzte aller Fachrichtungen hat der Verband zum Thema befragt. Die große Mehrheit steht den digitalen Entwicklungen im Gesundheitswesen offen gegenüber. Mehr als jeder dritte Arzt glaubt, dass solche Health-Startups mit ihren digitalen Versorgungsangeboten zur Verbesserung des Gesundheitswesens beitragen können, bei den jüngeren Medizinern sind es sogar 61 Prozent. „Die Medizin der Zukunft wird heute nicht mehr ausschließlich mit Reagenzglas und Mikroskop erforscht, es geht um Sensoren, um künstliche Intelligenz”, erklärt  Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder und ergänzt: „Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird Krankheiten heilen und unser Leben länger und angenehmer machen – Startups leisten dazu einen wichtigen Beitrag.” 

Gesundheitsmarkt: Strenge Regularien, komplexe Systeme

Doch es ist gar nicht so einfach, mit einem Medizinprodukt erfolgreich zu sein. Strenge Regulierung, komplexe Systeme und lange Markteinführungszeiten sind nur einige Gründe dafür. Das Magazin Gründerszene hat verschiedene Experten gefragt, vor welchen Herausforderungen Health-Startups stehen. Die Kernprobleme lassen sich schnell zusammenfassen. Schwierig wird es schon beim Käufer. In der Gesundheitsbranche zahlt in der Regel nicht der Nutzer, sondern die Krankenkasse oder die Klinik. Und die Budget-Verantwortlichen dort sind vor allem dann von einer Idee überzeugt, wenn sich damit Kosten und Zeit sparen lassen. Außerdem kommen noch viele Regularien hinzu. Möglicherweise müssen die Gründer sogar ein Qualitätsmanagementsystem nach ISO 13485 einführen und eine CE-Zertifizierung erhalten, bevor sie ihr Produkt auf den Markt bringen dürfen. All das kostet Zeit – genauso wie eine gründliche Vorbereitung. Gründer sollten sich mit dem Alltag in einer Klinik auskennen, um nicht gleich den Weg zur Tür gezeigt zu bekommen. 

Hoffnungslos ist die Lage aber nicht. So kann zum Beispiel die Zusammenarbeit mit einer Krankenkasse den Weg für Startups eben. Eine, die sich damit auskennt, ist Dr. Gabriele Gonschor, verantwortlich für neue Versorgungsangebote bei der Siemens-Betriebskrankenkasse SBK. Pro Jahr bewertet sie mit ihrem Team mehr als 150 Ideen von Startups. „Eine Kooperation mit einem Startup fällt uns häufig leichter, wenn zum Beispiel bereits etablierte Leistungserbringer wie Ärzte und Kliniken mit an Bord sind”, erklärt sie im Interview mit Gründerszene. Zudem erinnert Gonschor an das Wirtschaftlichkeitsgebot. Das heißt, die Idee muss mindestens gleichwertig zu bestehenden Versorgungen sein oder die bestehende Versorgung verbessern. Sichtbar in der Startup-Szene unterwegs ist auch die Techniker Krankenkasse (TK). „Startups fehlen häufig die Ressourcen, sich intensiv mit Fragen rund um die Krankenversicherung zu beschäftigen”, erklärt Timo Reineke, der sich für die TK um junge Unternehmen im Ruhrgebiet kümmert. Seine Aufgabe: Den Gründern Hilfestellung und Orientierung bieten, damit das Medizinprodukt am Ende auch beim Patienten ankommt. 

Das Gesundheitswesen ist also ein ganz besonderes Terrain für Gründer: eines, in dem viele Regularien gelten und das vom Kostendruck geprägt ist. Gleichzeitig aber bietet die Branche viele Chancen für ambitionierte Unternehmer. Wer einen langen Atem hat und es schafft, seine Idee auf den Markt zu bringen, der macht am Ende nicht nur sich selbst und sein eigenes Team glücklich, sondern auch viele Patienten. 

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