Grenzbeziehungen zwischen on- und offline verhindern Wachstumschancen

Die Zukunft sei digical (Kunstwort aus dem englischen „digital“ und „physical“) – das verkündete vor vier Jahren eine Bain & Company Studie und belegte spannende Wachstumspotenziale, die Unternehmen nach der erfolgreichen oder zumindest beginnenden „Verschmelzung“ ihrer digitalen und analogen Geschäftsmodelle erfuhren. Für den einen oder anderen Marketing- oder Retail-Geek war das schon damals nichts wirklich Neues, nur kannte er es unter dem Begriff No-lines (-Commerce) – der nahtlosen Verknüpfung zwischen den zwei Welten. Dass sich trotz der schnelllebigen Entwicklungen an der Grenzbeziehung zwischen on- und offline kaum etwas geändert hat, beweist das Magazin Harvard Business Manager, welches sich im vergangenen Jahr in einem Dossier diesem Thema noch einmal annahm. Wir tun es ihm nach, denn auch wir sind überzeugt, dass Startups und Konzerne die darin verborgenen Chancen nicht ignorieren sollten.

Auf der Suche nach den Innovationen für das im harten Wettbewerb so dringend benötigte Quäntchen Vorsprung schaffen Konzerne ganze Taskforce-Einheiten, um analoge Prozesse in binäre Codes zu überführen. Das bisherige Geschäftsmodell soll zwar weiterhin zuverlässig die Erträge einbringen, aber alle Investitionen fließen in digitale Touchpoints und -plattformen, bis diese – so die gängige Hoffnung – mit ihren Umsätzen das offline-Geschäft ablösen. Diesen steinigen Weg sparen sich viele Startups, indem sie gleich zu Beginn auf digitale Geschäftsmodelle setzen, denn auch sie folgen der Annahme, die Zukunft sei in der Matrix. Dumm nur, dass die Kunden (noch) aus Fleisch und Blut bestehen und im Diesseits der irdischen Welt festhängen. Genau genommen sogar dazwischen – denn immer mehr Menschen und Kunden fühlen sich in beiden Welten gleichermaßen wohl. Sie genießen gerne die Bequemlichkeiten der Online-Welt, die stets verfügbar ist und keine Schließzeiten kennt, aber Dinge anzufassen, zu riechen, vorher auszuprobieren gehört für sie weiterhin zum wichtigen Erlebnis ihrer sogenannten Customer Journey. Sie differenzieren die Produkte und Dienstleistungen nicht nach der Welt, in der sie angeboten werden. Das Produkt und der Service eines Unternehmens bleiben für sie immer mit der jeweiligen Marke verbunden – ganz gleich, ob digitales, analoges oder hybrides Geschäftsmodell.

Schwere Brüche zwischen den Erlebniswelten

Ist Ihnen als Kunde aufgefallen, dass Sie, je nachdem ob Sie mit dem Handy, dem Tablet oder PC, einem MS- oder Apple-Gerät ein Produkt kaufen wollen, manchmal verschiedene Preise angezeigt bekommen? Genauso gibt es zwischen on- und offline immense Unterschiede in Preis und Service. Besonders offensichtlich wird das bei Rabatt-Aktionen. So lange der Vorrat im Geschäft reicht, werden Sonderpreise ausgegeben, die digital nicht abgebildet werden oder den grundsätzlich verfügbaren Warenbestand aller Filialen und zentralen Lager unberücksichtigt lassen. Diese Erlebnisbrüche hören bei Preisen oder Warenbeständen längst nicht auf:
Warum nicht online kaufen und noch am selben Tag im Laden mit dem Kaufbeleg abholen – beispielsweise weil Sie fürchten, durch die Versandzeiten das Objekt der Begierde nicht rechtzeitig vor dem Urlaub, Geburtstag oder ähnliches geliefert zu bekommen? Warum werden mir, je nach meinen Präferenzen und denen meiner Peer Group, digital alle relevanten Produkte angezeigt, während ich mir im Geschäft die Hacken wund laufe, bis ich endlich das für mich geeignete Sortiment gefunden habe?

Erfolgreiche Beispiele der Grenzüberwindung

Die meisten Kunden unterscheiden nicht zwischen stationärem und digitalem Einkaufserlebnis. Umso mehr ist es ihnen ein Rätsel, warum die Unternehmen noch zwischen den Welten differenzieren. Digital sind die Kunden in vielerlei Hinsicht gläsern, aber in der physischen Welt erscheinen sie häufig noch wie ein Buch mit sieben Siegeln. Der Wechsel beider Konsumwelten gleicht für Kunden daher oftmals noch einer Fahrt auf dem Styx. Bis das Unternehmen beide Welten zusammenführt – also no-line bzw. digical wird. Ein erfolgreiches Beispiel ist die amerikanische Warenhauskette Macy’s. Im Zuge ihrer Omnichannel-Strategie 2010 fand sie heraus, dass diejenigen Kunden, die sowohl online als auch im Laden einkaufen, fünfmal profitabler als ihre reinen Online-Shopper waren. Also wurde in einem großangelegten Maßnahmenplan zuerst in der Prestigefiliale am Herald Square, New York und anschließend in vielen anderen Niederlassungen in die Fusion beider Erfahrungswelten investiert: Online kaufen und vor Ort nochmal probieren und abholen wurde genauso möglich, wie interaktive Warenverzeichnisse, die mobile App als Kundenführer sowie vieles mehr. Auch im Hintergrund wurden die betrieblichen Prozesse „digicalisiert“. Zwar dauert der Veränderungsprozess weiterhin an, sofern er wirklich jemals als abgeschlossen bezeichnet werden kann, aber die Effekte auf den Geschäftserfolg zeigten sich binnen kurzer Zeit. 2010 bis 2014 wuchs der Gesamtumsatz um 4,4 Milliarden Dollar – oder anders gesagt, um 19 Prozent. Auch Macy’s Aktienkurs folgte dem Trend und stieg seitdem stetig – allein 2013 um 43 Prozent. Ebenso war auch Disneyland um die digital-physische Fusion bemüht: Neben der konsistenten Erfahrung für Besucher, wollte man für die Identifizierung neuer Innovationspotenziale und Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung auch Echtzeitdaten über das Besucherverhalten im Park auslesen. Herausgekommen sind Produkte, die auch die Gäste lieben: eine Website und App, die nach den individuellen Wünschen das perfekte Reiseerlebnis zusammenstellen oder Wearables für bequemes Einchecken, Kaufen, Reservieren, oder Eintreten in Shows oder das eigene Hotelzimmer. Seit den ersten Projekt-Umsetzungen wurden pro Jahr zusätzliche 500 Millionen Dollar Umsatz generiert.

Digical-Potenziale heben

Statt der „Entweder-oder“-Strategie weiter zu folgen, sollten sich Unternehmer und Geschäftsführer überlegen, wie sie die Vorteile beider Welten für sich nutzbar machen könnten. Denn dass im Digitalen allein nicht das Heil zu finden ist, beweisen die physischen Läden der digitalen Pioniere wie Amazon, ebay oder Google. Statt nur auf „ein Pferd zu setzen“ oder das neu entwickelte Geschäftsmodell gegen das alte in den internen Wettbewerb um Investitionen und Anerkennung zu schicken, sollten Unternehmer sinnvoll und an den Kundenerfahrungen entlang die Verschmelzung beider Erfahrungswelten einläuten. Denn auch unsere Digital Natives hängen körperlich und mit allen Sinnen in der offline-Welt fest und dass sich das nicht wirklich ändern wird, zeigte auch die damals viel diskutierte und visionäre Filmreihe Matrix.

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